Wenn Gott im Alter das Leben beschneidet von G.J.
Mein Großvater war Landwirt. Zur damaligen Zeit standen Kleinbauern noch keine großräumigen landwirtschaftlichen Maschinen zur Verfügung. Die harte Arbeit musste per Hand und mit Pferden erledigt werden. Gelangen dann Saat und Ernte oft – oft wetterabhängig – waren Dank und Freude groß.
An einem schönen Spätsommertag ging Großvater mit seinem kleinen Enkel durch die Felder. Glücklich und in bescheidenem Stolz über den schönen Wuchs ließ Opa die Hand über die Ähren streifen und wies auf das reife Korn: „Siehst du“, sagte er, „reife Ähren neigen sich“. Ich verstand das erst viel später.
In meinem Leben begegnete ich dann viele Male der Wahrheit dieses Wortes. Reife Ähren, die sich durch das wachsende Gewicht beugen, sind ein Bild des betagten Lebens. Die Ansammlung und Anreicherung von Erfahrungen und Enttäuschungen, von Erlebnissen und Belastungen, von Versagen und Verzagen lassen ein Leben schwer werden. Die Neigung der Ähren durch das Gewicht des Inhaltes ist ein Symbol dafür, dass die Last des Lebens ihre Spuren hinterlässt. Erhobenen Hauptes und mit geschwollenem Kamm ging man vielleicht in dieses Leben hinein. Aber aus Leichtfüßigkeit und Lebensdrang wurden dann Würde und Bürde am Lebensabend. Die Fracht eines Schiffes drückt jedes Boot tiefer ins Element. Mühsal und Sorge ziehen Furchen in jedes Antlitz. Sonne und Regen des Lebens prägen, Schuld hinterlässt Narben, Verletzungen heilen nicht immer.
Zwar macht Last innerlich reich, beschwert aber auch. Es gibt Schläge, denen nicht auszuweichen war, die hingenommen werden mussten, die den Nacken beugten, bescheiden und still machten. Aber solch ein Härtetest des Lebens macht letztlich nicht arm, sondern inhaltsreich wie reifes Korn. Leiden und Reifen sind Geschwister.
Noch etwas Weiteres soll das Neigen der Ähren symbolisieren, wenn ich ihre Botschaft richtig verstehe, nämlich die Neigung, die Zuneigung zum andern. Gerade wer reif und voller Frucht ist, soll diese nicht für sich vereinnahmen und damit hoch hinaus wollen. Er wird sich bescheiden und zuvorkommend dem andern zuneigen: „Kommet einander mit Ehrerbietung zuvor“, sagt die Heilige Schrift (Römer 12,10). Gerade wer reif und erfahren, wer älter und überlegen ist, wird Selbstansprüche zurückstellen und dem andern das Ohr und das Herz leihen.
Das junge Gras kann sich nach oben recken und hochschießen. Allerdings wird es auch schneller gemäht und leichter vom Winde zerzaust. Die reife Ähre genießt Achtung und Nachsicht, braucht nicht mehr zu kämpfen, um sich Lebensraum zu schaffen. Sie weiß ohnehin, dass sie zum Schnitt in eine höhere Hand freigegeben ist und kann sich in der verbleibenden Zeit geduldig und demütig neigen.
Aber wir wehren uns dennoch gegen harte Straßenwalzen, die das Alter mitunter niederdrücken, beiseite schieben oder gar überrollen möchten. Diesem gesellschaftlichen Prozess muss man entgegentreten, denn dafür ist das Korn zu wertvoll und zu wichtig, da die junge Generation es zur Nahrung dringend benötigt. Die Alten sind oftmals der Kern und die Edelsteine der Gesellschaft und der christlichen Gemeinde. Sie würden uns fehlen, wären sie nicht in unserer Mitte.
Was zur Frucht und Ernte heranreift, muss erst wurzeln und wachsen, braucht Wasser, Wind und Sonne. Die dann zur Erde geneigten Ähren stehen auf festem Boden, brauchen diesen Wurzelgrund, um selbstsicherer Überheblichkeit zu entgehen. Denn es wartet der Schnitter , die letzte Ernte und eine neue Daseinsform. „Opa verfault das Weizenkorn dann?“ „Nein, mein Junge,das Körnchen wird in der Erde keimen, sprießen und zur neuen Pflanze heranwachsen. Aus dem Vergehen entsteht neues Leben.“ Dieses Wissen um den letzten Sinn des Daseins und den Wert des Alters drückt sich in der nach unten gebückten Ähre aus und teilt sich dem mit, der dafür ansprechbar ist.
Da führte Großvater mich weiter in seinen kleinen Garten mit mancherlei Bäumen und Sträuchern. Hier war im Sommer einiges tüchtig herangewachsen. „Schau mal, da wuchert manches zu viel. Für das nächste Jahr müssen wir ein paar Triebe und Äste zurückschneiden. Sonst tragen die keine Früchte.“ Als ich erwachsen war und einen Garten pflegte, sagte mir ein Gärtner: „Fruchtholz kann nur durch Beschneidung entstehen. Schönes Blattwerk sieht zwar gut aus, ist aber nur äußere Fassade ohne Frucht.“ Am Gleichnis Jesu vom „Weinstock“ wird das am deutlichsten. Wenn die Reben nicht beschnitten werden, wuchern die Ranken recht wild, aber sie tragen keine Trauben. Und manch ein älter werdender Baum oder Strauch bekommt naturgemäß trockene und morsche Äste, die ausgelichtet werden müssen. Viele Gewächse muss man sogar jährlich an etlichen Stellen zurückschneiden.
„Es tut mir immer leid“, sagte mein Opa,“ wenn ich schön Gewachsenes beschneiden muss. Aber sonst verwildert alles im Garten.“ Und er erklärte mir dann, dass vieles ein Sinnbild sei für menschliches Leben und die Formung unseres Alltags. Weder das persönliche Verhalten noch das Glaubensleben eines Christen dürfen ausufern und undiszipliniert verlaufen. Das menschliche Ego in seiner Selbstbezogenheit besitzt Wucherungstendenz. Darum würde Gott zur rechten Zeit und zur passender Gelegenheit das Korrekturmesser ansetzen, um einiges in unserem Leben zu begrenzen und zu bereinigen. Ich verstand das alles noch nicht so richtig.
Aber ich behielt seine Worte im Kopf und im Herzen. Das Korrekturmesser Gottes gehört zum Leben des Christen. Wenn Gott jedoch wirklich und spürbar bei uns zuschneidet, sind wir überrascht, erschrocken und verwirrt und verstehen den Weg Gottes nicht. Aber Gott ist im Grunde ständig am Werk, etwas an uns und in uns zu bereinigen und zu heiligen. Er nimmt weg, was ihm nicht gefällt oder was zu viel ist. Er setzt an, wo und wann er will, oft scharf und unbarmherzig. Das schmeckt uns dann nicht. Dennoch beschneidet er die Reben, die keine Frucht tragen. Manches im Leben kann nur durch einen Korrekturschnitt zum Ziel geführt werden und für die Ewigkeit reifen. Im Propheten Hesekiel 20,44 heißt es: „Ihr werdet erfahren, dass ich der Herr bin, wenn ich das mit euch tue, um meines Namens willen.“ Hier gibt man ab, lässt los, kämpft nicht mehr, glaubt und vertraut, denn ein Höherer führt Regie.
Der Großvater neigte sich dem Jungen zu. Es war ein schöner Tag im späten Sommer als er mir das goldene Kornfeld und die besonderen Gewächse zeigte und erklärte. Die Weisheit seiner Worte, die Botschaft der Ähren und des Zugriffs Gottes erfasste der Junge in ihrer Tiefe und erst viel später in Jahrzehnten seines Lebens und Dienstes. Dies mitzuteilen wünschte er, dem die Jahre nun selbst den Rücken gebeugt haben.